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12 WGLi-Umschau | 4-2018

                          Die Renaissance der Genossenschaft

                          Das 200 Jahre alte demokratische Modell wird wiederentdeckt

                          Rund 2.000 Wohnungsgenossenschaften bieten Millionen von Menschen ein Recht auf Mitbestim-
                          mung. Warum das demokratische Modell der Genossenschaft eine Renaissance erlebt, weiß Prof. Dr.
                          Jürgen Keßler. Die Umschau-Redaktion sprach mit dem Juristen, der zu den wichtigsten Beratern im
                          EU-Gesetzgebungsprozess gehört, wenn es um Genossenschaften geht.

                          Prof. Dr. Keßler, die Genossenschaftsidee                 nis der Genossenschaft kaum Erfahrung haben. Das
                          feierte dieses Jahr ihren 200. Geburtstag. Ist sie        kann man ändern, indem man ihnen die Genossen-
                          auch heute noch eine Idee mit Zukunft?                    schaft nahebringt. Und indem man die Vertreterver-
                          Über die Jahre entstand ganz allgemein der Eindruck,      sammlung ernst nimmt: Die Vertreter können hier
                          die Genossenschaft sei eine veraltete Rechtsform.         aufzeigen, was die Genossenschaft stärker in den
                          Darin unberücksichtigt blieb jedoch die Bedeutung         Fokus rücken sollte. Es geht um konstruktiven Aus-
                          des Wohnens – oder präziser ausgedrückt – die Art         tausch. Eine Genossenschaft muss etwas Wichti-
                          und Weise des Wohnens. Wir leben in einer Zeit, in        ges vermitteln, dass nämlich jedes Mitglied Teil des
                          der die Bindungskräfte sozialer Einrichtungen und Or-     Unternehmens ist.
                          ganisationen, wie sie Kirche oder Vereine vorhalten,      Ich bin es selbst, der die demokratischen, sozialen und
                          abnehmen. Unsere Gesellschaft leidet an der Verein-       kreativen Kräfte in einer Genossenschaft leben muss.
                          zelung. Der Einzelne ist nicht mehr aufgehoben in
                          einer Gemeinschaft. Das Wohnen steht dagegen zu
                          jeder Zeit in einem sozialen Kontext. Das klingt etwas
                          theatralisch, wenn ich das so sage, aber ich meine
                          das ernst: Manche wollen nicht nur eine Wohnung,
                          sondern ein Zuhause. Sie wollen das Gefühl haben,
                          zu einer Gemeinschaft zu gehören. Das bedeutet
                          nicht, dass man sich jeden Tag gemeinschaftlich auf
                          den Keks gehen muss. Es bedeutet nur, dass man sich
                          auch mal gegenseitig unterstützen kann. Ich denke,
                          da liegt sehr viel Kraft in der Genossenschaft.

                          Der demokratische Aspekt hat im genossen-                 Gerade eine Wohnungsgenossenschaft lebt
                          schaftlichen Modell einen hohen Stellenwert –             nicht nur von den sozialen Kräften, sondern
                          wo liegt hier die Herausforderung?                        auch vom wirtschaftlichen Erfolg. Sind die
                          Was wir den Genossenschaftsmitgliedern wieder             beiden Aspekte nicht gegensätzlich?
                          in Erinnerung rufen müssen: Ihr seid hier nicht nur       Jede Genossenschaft hat einen zentralen Grundsatz
                          Mieter, sondern Euch gehört das Unternehmen – Ihr         – das ist der Fördergrundsatz. Genossenschaften dür-
                          könnt mitbestimmen, Ihr könnt mitmachen. Das ist          fen nur solche Geschäfte tätigen, die für die Mitglie-
                          ein Ideal, das organisiert werden will. Für große Ge-     der förderwirksam sind. Insbesondere bei den Woh-
                          nossenschaften wirft das ein Problem auf: Eine Gene-      nungsgenossenschaften hat der Gesetzgeber genau
                          ralversammlung, bei der prinzipiell alle Mitglieder mit-  diesen Förderaspekt 2006 in zweifacher Hinsicht
                          bestimmen, ist organisatorisch kaum durchführbar.         gestärkt und betont: Genossenschaften fördern ihre
                          Eine so große Genossenschaft wie die WGLi müsste          Mitglieder nicht nur im Hinblick auf den Wohnraum,
                          dazu schon das Hertha-Stadion mieten.                     der zur Verfügung gestellt wird, sondern auch im Hin-
                          Die Vertreterversammlung – jede Genossenschaft ab         blick auf die sozialen und kulturellen Belange. Bei der
                          einer Größe von 1.500 Mitgliedern kann eine solche        Genossenschaft gibt es keine Fremdinvestoren wie
                          Form der Versammlung wählen – hat Vorteile: Diese         etwa bei den Kapitalgesellschaften. Da geht es nicht
                          Versammlung bringt mehr Kontinuität und Stabilität        um den Shareholder-Value (Ertragswert des Eigenka-
                          in den demokratischen Prozess. Trotzdem bestimmt          pitals, Anm. d. Redaktion), also darum, Gewinne an
                          auch hier jedes Mitglied mit: Es wählt ein anderes        die Investoren auszuschütten.
                          Mitglied, das es vertritt. Oder es nutzt die Chance
                          und kandidiert gleich selbst als Vertreter für seinen
                          Wahlkreis.

                          Wie sollte eine Vertreterversammlung                      Und worin liegt hier ganz konkret der Vorteil
                          idealerweise zusammengesetzt sein?                        einer Genossenschaft?
                          Die Vertreterversammlung soll das Spiegelbild der Mit-    Die Kapitalgesellschaften sind doch immer „Diener
                          glieder sein. Gerade jüngere Vertreter zu gewinnen,       zweier Herren“. Einerseits wollen die Mieter bezahl-
                          ist nicht immer einfach, weil sie mit dem Verständ-       baren, qualitativ ausgestatteten Wohnraum. Anderer-
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