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WGLi-Umschau | 4-2021 9
zwanglose Gesellschaft das Geheimrezept der „Ich bin Thüringerin,
Treffen, die neben einer schönen warmen Mahl- ohne Kartoffeln geht
zeit auch menschliche Wärme bieten. Die beiden es nicht bei mir“,
Frauen nehmen die Bestellungen der Besucher schmunzelt eine Besu-
im Voraus entgegen und organisieren die Treffen cherin. Fisch, das weiß
ehrenamtlich als Nachbarinnen. Sie sind nicht Sieglinde Porath, sei
nur ein eingespieltes Team, sondern begegnen bei den Herren immer
jedem ohne Vorbehalte und mit viel Einfühlungs- der Renner. „Schweinshaxe auch“, ergänzt ihre Partnerin Heide-
vermögen. „Wir zwingen uns niemandem auf“, marie. Nicht immer geht es darum, eine warme Mahlzeit zu sich
sagt Heidemarie Nicksch. „Jeder hat seine Eigenheiten. Warum zu nehmen, die man für sich zuhause nicht mehr kochen würde.
auch nicht?“, sagt Sieglinde Porath. Den Treffen bereiten die bei- „Meine Frau kann wunderbar kochen, das Essen hier ist deshalb
den Frauen mit den gedeckten Tischen, dem frischen Kaffee und gerade noch annehmbar“, sagt ein Herr augenzwinkernd. Er ist
ihrem herzlichen Auftreten eine liebevolle Bühne, sodass sich mit seiner Frau regelmäßig bei den Treffen. Wenn bei den Ehe-
auch völlig Fremde eingeladen fühlen. Deshalb tun die Namen leuten die Küche zuhause kalt bleibt, dann aber nicht nur aus Be-
der Besucher auch in diesem Text nichts zur Sache. quemlichkeit. Der Ingenieur lebt vorausschauend: Hier sehe er,
wie andere mit dem Alter und ganz verschiedenen Problemen
Das Geheimrezept: zwangloses Beisammensein zurechtkämen. „Das nimmt mir die Angst vor meinem Tremor“.
Obwohl keiner der Besucher dieser Tafelrunde jünger ist als 70 Ein anderer erzählt, er sei in diesem Jahr Witwer geworden, so
Jahre, spielt das Alter keine Rolle. Die Beweggründe für einen manches Gericht habe er sich noch von seiner Frau abgeguckt.
Besuch in der Runde sind ganz unterschiedlich. Allen gemein ist Trotzdem käme er gerne zum gemeinsamen Essen. Das Kochen
die Suche nach Abwechslung in einem Alltag, dessen Routine am eigenen Herd, für manche hält das die Erinnerung an liebe
manchmal schwer aufs Gemüt drückt. Darunter zählen auch so Menschen schmerzlich wach. Es reicht schon, wenn man ge-
manche Essensgewohnheiten. Alle wohnen noch selbstständig dankenverloren zwei Gabeln aus dem Besteckkasten holt. Ein
und bewältigen ihre Tage alleine, auch die über 90-jährige Be- Ortswechsel zur eigenen Küche bringt dann auf andere Gedan-
sucherin, die die Runde mit witzigen Kommentaren auflockert. ken, spart Mühe und macht satt. Nebenbei begegnet man Men-
„Ich müsste öfter unter die Leute“, sagt sie, dabei pflegt sie viel schen, mit denen man einen kurzen Nachmittag lang seine Ge-
Austausch mit ihrer Familie, die Jüngeren hatten zu ihrem Ge- danken, sein Lachen oder schlicht seine Vorliebe für Russischen
burtstag sogar ein Blechbläserensemble gegründet. Doch abseits Zupfkuchen teilen kann.
der Jubiläen führen viele Familienmitglieder ihr eigenes Leben.
Über die Jahre werden Beziehungen mal enger, mal versanden
sie ganz. Auch deshalb tut es gut, das Gespräch mit anderen
Themen zu füllen. Das Interesse am Leben erwacht mit der Neu-
gier aufeinander: „Wo hast Du denn diese tolle Hose bestellt?“,
fragt eine Dame ihre Tischnachbarin. Und neben Arzt-Adressen
für die dritte Corona-Impfung werden unter den Herren auch
Tipps zur bewährten Campingausrüstung geteilt.
Zuallererst geht es aber natürlich ums Essen: Wer hat Dessert be-
stellt? Wer Kartoffeln? „Oft kennen die Tischnachbarn die Bestel-
lung besser, als man selbst“, schmunzelt ein Besucher. Die Bestel-
lung wird oft schon am Freitag davor aufgegeben, da gerät manches
in Vergessenheit. Die Vorliebe für eine Beilage, sie verrät mitunter
auch etwas über die Herkunft und ist ein prima Gesprächseinstieg.
Sieglinde Porath und Heidemarie Nicksch sind die gute Seele der Treffen. Das „Essen in Gemeinschaft“ ist eine
nachbarschaftliche Initiative, die auch
gerne im Fennpfuhl aufgegriffen wer-
den kann. Sie haben Lust, sich ehren-
amtlich zu engagieren und solche Tref-
fen zu koordinieren? Bernhard Polifke,
Mitarbeiter vom Team Soziales der
WGLi, spricht mit Ihnen gerne über
eine mögliche Umsetzung eines sol-
chen Vorhabens. Er ist erreichbar unter
der Telefonnummer (030) 97 000 438
oder unter bernhard.polifke@wgli.de.
Fotos: WGLi / Karolina Wrobel