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WGLi-Umschau | 1-2021  15

nahegelegenen Schloss. Nachdem das           Bestandteil von Mietwohnungen an Ver-                               Foto: WGLi / Karolina Wrobel
Palais 1935 im Zuge der nationalsozialis-    breitung. Das führte gerade in Berlin zu
tischen Stadtplanung verschwand, wurde       dem Phänomen der sogenannten „Kle-
es im Rahmen des 750-jährigen Jubiläums      bebalkone“, mit denen immer öfter auch
im Nicolaiviertel wiedererbaut. Heute be-    gewöhnlichere Mietshäuser ausgestattet
findet sich darin das Stadtmuseum Berlin.    wurden. Von rechteckig über halbrund bis
                                             hin zu „zur Unbrauchbarkeit verkümmer-
Neue Prinzipien der Architektur              ten Zierbalkonen“ reichten die Erschei-
                                             nungsformen.
Man kann diesen Balkon des Palais auch
als selbstbewussten Ausdruck des gesell-     Für den Arbeiter ein nützlicher
schaftlichen Wandels jener Zeit verste-      Zusatz
hen, in welcher die Vormachtstellung der
absolutistischen Monarchie zu bröckeln       Die zunehmende bauliche Verbreitung des
begann. Ihren finalen Ausdruck fand sie      Balkons und seine „gärtnerische“ Nutzung
schließlich in der Französischen Revoluti-   führten nicht zuletzt zu einer Veränderung
on 1789 und der aufkommenden Indust-         des städtischen Erscheinungsbildes. Der
rialisierung. Warum das in Sachen Balkon     erste von vielen weiteren Balkonschmuck-
wichtig ist? Neben der gesellschaftlichen    wettbewerben kann auf die Jahrhundert-
Ordnung wurden auch die Prinzipien der       wende um 1900 in Steglitz datiert werden;
Architektur neu gedacht: Denn wo die ge-     die Befürworter „versprachen sich von den
sellschaftlichen Hierarchien durchlässiger   Wettbewerben (…) eine Steigerung des
wurden, da legte man sich als wohlha-        Fremdenverkehrs und nicht zuletzt höhere
bender Bürger bisher dem Adel vorbehal-      Umsätze in der Gartenwirtschaft“. Für die
tene Güter zu – der Balkon stillte dieses    meisten Berliner, vor allem Arbeiter, blieb
Repräsentationsbedürfnis. Ein weiterer       der Balkon (sofern sie überhaupt einen
Einflussfaktor: der Zuzug der ländlichen     besaßen) aber ein nützlicher Zusatz, auf
Bevölkerung nach Berlin schuf prekäre        dem eher Petersilie statt prächtige Petunie
Wohnsituationen, die bauliche Verbesse-      wuchs. Und auf dem manchmal sogar Ka-
rungen für die Masse notwendig machte.       ninchen gehalten wurden.
                                             Doch auch in der Arbeiterschaft machte
Städter sehnt sich nach Natur                sich der Gedanke populär, der Balkon sei
                                             nicht nur hauswirtschaftlich zum Trocknen
Natur in der Stadt, sie blieb für die meis-  der Wäsche oder zur Kleintierhaltung gut
ten Städter ein Sehnsuchtsort. Beengt leb-   – sondern auch für die eigene Gesund-
ten die Berliner Arbeiter noch vielfach bis  heit. Und es waren schließlich die sich um
ins 20. Jahrhundert hinein. Viele findige    die Jahrhundertwende gründenden Woh-
Berliner erkoren in ihren kleinen Behau-     nungsbaugenossenschaften und Bauver-
sungen kurzerhand die Fensterbretter zu      eine, die einer breiteren Bevölkerung das
ihren Gärten. Als sogenannte „Blumisten“     „gesunde Wohnen“ ermöglichten – durch
fürchteten sie damals den Fingerzeig des     den Anbau von Balkonen.
Vermieters und eine sofortige Kündigung.     Die WGLi steht auch heute noch in dieser
Doch auch hier wandelte sich vieles. Denn    Tradition und investierte in ihrem 2019 er-
auch die Wohlhabenden fingen an, ihre        richtetem Neubau am Weißenseer Weg 16
bislang kargen städtischen Balkone im Sin-   in ebenso viele Balkone und Terrassen wie
ne des Zeitgeistes zu begrünen. Die Histo-   Wohneinheiten. Und nicht nur das: wo
riker Susann Hellemann und Lothar Binger     es technisch und wirtschaftlich im Woh-
wissen auch in ihrem Buch „Von Balkon        nungsbestand der WGLi möglich ist, wird
zu Balkon. Berliner Balkongeschichte(n)“     nachträglich angebaut. Seit 2012 wurden
zu beschreiben, welche Pflanzen Mitte des    so über 350 neue Balkone angelegt. Mit
19. Jahrhunderts zum Zuge kamen: „Bal-       diesen Investitionen für den Wohnkomfort
konkästen waren wohl noch unbekannt.         bleibt das genossenschaftliche Zuhause at-
Stattdessen stellte man die Pflanzen in Kü-  traktiv – für Berliner jeder Colouer.
beln, großen Töpfen auf den Boden des
Balkons, dessen Brüstung als Eisengitter     Wissenswertes zur Balkongeschichte hält
oder Balustrade noch einen Durchblick        die Publikation „Von Balkon zu Balkon.
erlaubte“. Erstmals wurden „Sitzplätze im    Berliner Balkongeschichte(n)“ von Susann
Freien wünschenswert“ – und damit ge-        Hellemann und Lothar Binger bereit. Das
wann der Balkon sowohl als Erweiterung       Buch aus dem Nishen-Verlag ist leider nur
des Wohnraums, als auch repräsentativer      noch antiquarisch erhältlich.
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