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14 WGLi-Umschau | 1-2021

Eine kleine Balkongeschichte

Vom Luxusobjekt zum städtischen Luftkurort für jedermann

Vom Balkon aus kann man eine Republik ausrufen oder aus dem Verborgenen heraus das Straßengeschehen beobach-
ten. Manch einer f indet nur auf „Balkonien“ die nötige Erholung und Ruhe vom Stress des Alltags. Der Balkon ist ein
unersetzlicher Bestandteil unseres Alltags. Und mehr noch: Er hat einen bedeutenden Platz in unserer Kulturgeschich-
te. Das war aber nicht zu jeder Zeit so.

Der Balkon gilt heute als unverzichtbarer  Ein Schmuckelement schreibt                    der Republik wich, galt ausgerechnet die-
Bestandteil fast eines jeden Hauses. Da-   Geschichte                                     ser Balkon als erhaltenswert. Zu sehen
bei ist er in der Geschichte des Bauens                                                   ist er am ehemaligen Staatsratsgebäude
eine Neuerung, die sich erst über die      Ausgerechnet der Ausbau des Berliner           der DDR; auch wenn es heute unter His-
Jahrhunderte durchsetzen musste. Denn      Schlosses im 17. Jahrhundert verhalf dem       torikern strittig ist, ob Karl Liebknecht am
Bauen war zu jeder Zeit ein kostspieliges  Balkon zu mehr Bekanntheit. Unter Kur-         9. November 1918 tatsächlich auf eben
Unterfangen. Noch vor wenigen Jahr-        fürst Friedrich Wilhelm (1740 - 88) konnte     jenem Balkon die sozialistische Republik
hunderten war der Balkon deshalb ein       die höfische Gesellschaft auf entsprechen-     ausrief oder dies doch eher auf Augenhöhe
echtes Luxusobjekt – und blieb meist von   den Aussichtsplattformen des Schlosses das     mit den Demonstrierenden tat.
dem Hausherren unbenutzt. Wer sollte       Land überblicken, dass nun königliche Re-      Zu den schönsten und nicht mehr im
also auf dieses in der Höhe angebrachte    sidenz werden sollte. Und mehr noch: Um        Original erhaltenen Balkonen (heute als
Schmuckelement an der Hauswand Wert        1707 wurde am Schloss genau der Balkon         Replik zu sehen) zählt indes der erste Pri-
legen? Es war der Adel, der das Privileg   fertig gestellt, der auch hunderte Jahre da-   vatbau Berlins. Er entstand in den Jahren
zur Etagenbauweise mitbrachte – und        nach noch Geschichte machen sollte. Kaum       1761 bis 66. Die gerundete Ecke des ge-
das Geld gleich dazu. Der Balkon war       ein Balkon hat bis heute die geschichtspo-     schwungenen Palais Ephraim umrankte
lange Zeit schmuckes Beiwerk, das eine     litische Wirkung in Berlin, als der am Portal  ein mit vergoldeten Schmiedearbeiten
ansonsten zu einheitlich erscheinende      IV des Berliner Schlosses. Denn selbst nach    umgebener Vorbau. Mit dessen Hilfe hob
Fassade optisch auflockerte.               der Sprengung des barocken Riesen 1950,        sich die bürgerliche Gesellschaft symbo-
                                           das als Symbol des Kaiserreichs dem Palast     lisch auf Augenhöhe zu dem damals

                                                                                                                Frühling.

                                                                                                                Vata, pflanz die tück`schen Bohnen
                                                                                                                Wieder for uns ufs Balkon.
                                                                                                                Denn aus allen Jrammophonen
                                                                                                                Kehlt det Lied vom kleenen Cohn.

                                                                                                                In die Kästen neue Erden,
                                                                                                                Pferdeäppel drufjesät!
                                                                                                                Max sagt: et will Friehling werden.
                                                                                                                Im Keller hat der Hahn jekräht.

                                                                                                                Will sick wo Pieräser scharren.
                                                                                                                Zimmer bibber bonika.
                                                                                                                Hoch, die Jrammophone schnarren:
                                                                                                                Alle Vögel sind schonst da!

                                                                                                                                        (aus: Heinrich Zille/Alfred Richard Meyer,
                                                                                                                                        Komm, Karlineken, komm! München 1983)

                          ©Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Lithografie von Heinrich Zille, Frühling, Berlin 1924/25, Inv.-Nr.: VII74/27w
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