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WGLi-Umschau | 1-2018 9
Es muss nicht immer Marathon sein
Mit Bewegungspunkten den Alltag besser meistern
Prof. Dr. Ingo Froböse lehrt an der Deutschen Sporthochschule Köln und weiß, warum Bewegung im
Alltag zur Selbstständigkeit im Alter beitragen kann.
Professor Froböse, was muss eine Genossen- maximal 15 Jahre alt, egal wie alt jemand ist. Denn
schaft aus Ihrer Sicht tun, um lebenslanges Knochen erneuern sich alle 15 Jahre. Das Blut erneu-
Wohnen zu ermöglichen? ert sich alle zwei Wochen. Fast 600 Milliarden Blut-
Leben heißt doch vor allem, soziale Kontakte zu zellen werden neu aufgebaut. Und auch die Muskeln
pflegen und nicht bloß in der Wohnung zu bleiben. erneuern sich spätestens alle 15 Jahre. Muskeln sind
Eine Wohnungsgenossenschaft bietet hier die Mög- also immer in der Pubertät. Egal ob ich 60 bin oder
lichkeiten für das Miteinander. Damit dieses Mitein- 70. Pubertierende kann man beanspruchen!
ander aber überhaupt erlebt werden kann, müssen
Menschen mobil bleiben. Ein Mensch muss die Aber wie – mit Marathon? Oder kann
Fähigkeit haben, einen Weg zurückzule- schon Hausarbeit zum Fitnesspro-
gen, an die Stelle zu gelangen, wo Ge- gramm werden?
meinschaft ist. Deshalb ist es sinnvoll, „Sammeln Auf jeden Fall. Es muss nicht immer
wenn die Genossenschaft gleichzeitig Sie täglich Marathon sein! Ich erzähle mal ein
Anreize bietet, damit Menschen ihre Bewegungs- Beispiel von meiner Oma. Meine
Fitness erhalten können. Oma konnte sich zwar draußen nicht
Der WGLi ist ein breites Angebot punkte.“ mehr so frei bewegen, aber in ihrer
Wohnung exzellent. Und sie hatte im
an Unterstützung wichtig. Ein wich- Haushalt eine ganz eigene Strategie
tiger Fokus der Genossenschaft liegt entwickelt. Etwa beim Bügeln. Sie ver-
auf den baulichen Maßnahmen, etwa dem wahrte den Wäschekorb in einem Zimmer. Das
stufenlosen Zugang zu den Wohnungen. Bügelbrett in einem anderen. Und sie ging für jedes
Bauliche Voraussetzungen schaffen die Rahmenbe- einzelne Kleidungsstück hin und her. Sie sammelte
dingungen: unüberwindbare Hindernisse müssen für also Bewegungspunkte. Und das ist eine wunderbare
ältere Menschen abgebaut werden. Doch erst die Fit- Möglichkeit, fit zu bleiben: Bewegungspunkte sam-
ness der Menschen selbst ist der eigentliche Garant meln! Das kann man in der Wohnung machen. Aber
dafür, dass sie mobil bleiben. Alle Barrieren wegzu- es bedeutet auch, wirklich etwas zu tun. Das Wich-
nehmen, ist die falsche Strategie. Denn das, was der tigste ist Aktivität. Ein Spaziergang erhöht die Durch-
Körper ständig in seiner Biologie benötigt, ist ein Reiz. blutung im Gehirn um bis zu 30 Prozent. Das macht
Und das kann schon mal heißen, ein Bein zu heben, frisch und jung. Legen Sie viele Wege zu Fuß zurück.
um ein Hindernis zu übersteigen. Dazu gehört es Auf der Straße, im Treppenhaus, auf den Fluren oder
auch, ein, zwei Stufen hochzugehen. Das ist ein Trai- in der Wohnung. In uns allen lodert das Bewegungs-
ningsreiz. Wenn man einem älteren Menschen dieses feuer – fachen wir es an!
Training im Alltag nimmt, nimmt man ihm auch die
Chance, bis ins hohe Alter selbstständig zu bleiben.
Es heißt, Senioren sind heute fitter denn je.
Stimmt das?
Es ist wirklich so: Der Senior beginnt heute erst mit
rund 70 Jahren. Darunter sind sehr viele aktive, fitte
Menschen. Der Einfluss der modernen Medizin spielt
hier eine wesentliche Rolle. Aber nicht nur. Früher
gab es eine hohe körperliche Beanspruchung: Man
hat unter Tage gearbeitet, in der Produktion, musste
schwere Gegenstände heben. Das hat zu Verschleiß
geführt. Die meisten der heutigen Probleme resul-
tieren aus der Nichtbeanspruchung. Kennen Sie den
Spruch? „Nur was genutzt wird, entwickelt sich. Was
ungenutzt bleibt, verkümmert“.
Den ewig jung gebliebenen 70-Jährigen gibt es ©Sebastian Bahr
dennoch nicht. Im Alter baut der Körper ab.
Man kann wirklich etwas erreichen, wenn man etwas
tut. Ich gebe gern ein Beispiel: Jede Knochenzelle ist